In China gab es einen buddhistischen Lehrer, der im ganzen Land unterrichtete. Er war sehr angesehen, seine Weisheit war legendär, viele Menschen besuchten seine Reden. Als Mönch seines Klosters war er beliebt, viele Brüder hörten auf ihn.
Als er zu einer neuen Lesereise aufbrechen wollte, kam ein Novize (angehender Mönch) auf ihn zu und fragte, ob er ihn nicht begleiten könnte. Da die beiden Männer etwa im selben Alter waren, und die Reisen ihn immer mehr verausgabten, willigte der Lehrer ein, gemeinsam reisten sie los. Bei jedem Unterricht saß der buddhistische Schüler nun im Auditorium, bald kannte er jede Deutung des Lehrers, jeder Satz war ihm wohl bekannt, er lauschte wieder und wieder den Worten dieses Meisters.
Die Abende nutzten die Brüder, um über das Geschehene zu sprechen, die Inhalte der Lehrreden weiter zu vertiefen. Häufig viel dem Lehrer auf, dass der Schüler seine Vorträge schon fast auswendig kannte, dass auch seine Argumentation und sein Ausdruck sich ständig verbesserten, er war angetan vom Novizen. Im Lehrer wuchs die Erkenntnis, dass der Schüler am Ende der Ausbildung angelangt war, dass er durch „Zuhören“ ebenfalls ein Meister geworden ist. Das erfüllte den Lehrer mit tiefer Freude.
Als die beiden eines Morgens im Speisesaal eines Tempels zu einem weiteren Kursus aufbrachen, sagte der Lehrer zum Novizen: „Ich möchte, dass du den Vortrag heute hältst, du hast meine Worte nun schon oft genug gehört, du wirst die Aufgabe sicherlich ebenso gut wie ich bewältigen“!
So war es dann auch! Der Novize machte seine Sache gut, die Menschen hörten ihm gerne zu, er konnte mit seinem Vortrag die Besucher „erreichen“, die Lehre Buddhas kam ihm leicht und locker über die Lippen. Nach der Vorlesung kamen die Anwesenden auf ihn zu, lobten seine ruhige Art, sein Vortrag war ein Erfolg.
Von da an hielten Lehrer und Schüler die weiteren Vorlesungen immer abwechselnd, der Novize wurde immer besser in seinen Vorträgen.
Zurück in ihrem Tempel ging der Lehrer zu seinem Abt, er erklärte diesem, dass der Novize jetzt auch eigenständig die Lehre verbreiten könne, dass er befähigt sei nun Mönch zu sein.
Der Novize wurde aufgrund der Fürsprache bald als Mönch ordiniert.
Kurze Zeit später bereitete er sich auf seine erste eigene Vortragsreise vor, als ein Novize auf ihn zukam und fragte, ob er ihn nicht begleiten könnte.
Solange man selbst redet, erfährt man nichts– Marie Freifrau Ebner von Eschenbach – Schriftstellerin – 1830 bis 1916
In Wirklichkeit gibt es nur die Atome und das Leere